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Literatur Learncard 18572769


Question

Aufklärung

Emilia Galotti – Das Virginia-Motiv


Warum und wie greift Lessing in seinem Schauspiel „Emilia Galotti“ auf das antike Virgina-Motiv zurück?

Answer

Aufklärung

Emilia Galotti – Das Virginia-Motiv


Antikes Virginia-Motiv


Lessing griff bei seinem Drama „Emilia Galotti“ auf einen antiken Stoff zurück. Titus Livius erzählt im dritten Buch seines Werks „Ab urbe condita“ die Geschichte der Römerin Virginia, die von ihrem eigenen Vater getötet wird, weil dieser keine andere Möglichkeit sieht, sie vor den Nachstellungen des Decemvirn Appius Claudius zu schützen. In Livius’ Werk folgt auf die Tat von Virginias Vater ein Volksaufstand, in dessen Verlauf die Decemvirn zurücktreten müssen und Appius Claudius ins Gefängnis geworfen wird, wo er sich schließlich selbst tötet.


Lessings Abweichungen von der Vorlage


Lessing weicht in einem ganz entscheidenden Punkt von seiner literarischen Vorlage ab, indem er darauf verzichtet, die Tat Odoardos zum Anlass für einen Volksaufstand zu machen. In einem Brief an seinen Bruder Karl schreibt er am 1. März 1772: „Du siehst wohl, dass es weiter nichts als eine modernisierte, von allem Staatsinteresse befreite Virginia sein soll“. Trotzdem kann man das Drama als Kritik an der bestehenden Herrschaftsform lesen. Lessings Zeitgenossen verstanden sehr wohl, dass der Klassengegensatz von Bürgertum und Adel thematisiert wurde, die Verlagerung der Handlung nach Italien macht allenfalls oberflächliche Zugeständnisse an die herrschende gesellschaftliche Klasse in Deutschland.



Wissensteil:


Zwei Literaturwissenschaftler äußern sich zur Verwendung des Viginia-Stoffes in Lessings Drama:


1. Franz Mehring, 1893:

Tragisch läßt sich der Ausgang der Emilia nicht begründen, und zwar deshalb nicht, weil er sich historisch allzu gut begründen läßt. Darin haben all die berühmten Kritiker von Friedrich Schlegel bis zu Friedrich Vischer entschieden Unrecht, daß sie die Emilia vom historischen Standpunkt anfechten als die künstliche Übertragung einer That rauer Römertugend in moderne Zustände. Mit Recht hat schon Stahr [ein Biograf Lessings] hervorgehoben, daß Lessing aus des römischen Historikers bekannter Erzählung von der Virginia nichts entnommen habe, als die Thatsache, daß ein Vater seine Tochter tödte, um ihre jungfräuliche Ehre vor der Vergewaltigung eines Tyrannen zu retten. Oder noch genauer: in der berühmten Erzählung des Livius erkannte der junge Lessing zuerst die empörendste und erschütterndste Begleiterscheinung der sozialen Unterdrückung, die Vergewaltigung der jungfräulichen Ehre, die im achtzehnten Jahrhundert so modern war, wie vor zweitausend Jahren, wie sie heute noch ist und wie sie immer sein wird, so lange soziale Unterdrückung besteht. Lessing bewahrte seinen sozialen Scharfblick, wenn ihm jenes tragische Moment in seiner weltgeschichtlichen Allgemeinheit unendlich viel bedeutsamer erschien, als der einzelne Fall, der den zufälligen Anstoß zu einer politischen Umwälzung gegeben hatte. (Franz Mehring: Die Lessing-Legende. Eine Rettung. Dietz, Stuttgart 1893. S. 350f.)


2. Hilde Spiel, 1970:

Lessings Vorwurf stammt aus dem Altertum. Virginia, nach römischer Sage jungfräuliche Tochter des Plebejers Virginius, wurde von ihrem Vater erstochen, als der Dezemvir Appius Claudius ihr nachstellte. Dieser Grundgedanke war 1772, als das ursprünglich „Virginia“ genannte bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti uraufgeführt wurde, so akzeptabel wie im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Zweihundert Jahre später erscheint es uns so fremd, als käme er von einem anderen Stern. Dazu die Art des Denouements: Emilia, noch nicht einmal verführt, muß um ihre Tugend bangen; ihr eigenes heißes Blut, so fürchtet sie, mag bewirken, daß sie zur Konkubine des Prinzen wird. Sie überredet ihren Vater, sie zu erstechen. Er tut‘s und schiebt dem Prinzen, mit Billigung des Autors, die Verantwortung zu.

Heißt es nicht das Schicksal herausfordern, wenn man solches der Gegenwart plausibel machen will? Was bleibt übrig, wenn das Rankenwerk gestutzt, die Intrige auf ein Minimum reduziert, der zitatgewordene Text [ … ] des allzu Zeitgebundenen entledigt wurde? Zwei entscheidende Elemente: die Chemie menschlicher Beziehungen und der gesellschaftliche Gärungsprozeß. Sieben Personen, Emilia, ihre Eltern, ihr Verlobter, der Prinz, seine Mätresse und sein Kammerherr sind in ein fein gesponnenes Netz von Zusammenhängen verstrickt. Dies auszuleuchten, mit Geduld und psychologischem Feingefühl, ist der eine Auftrag des Stückes. Der andere: den sich vorbereitenden Aufstand des Bürgers gegen Fürstenwillkür zu illustrieren, wie Lessing ihn, fünfzehn Jahre vor der Französischen Revolution, elf vor Schillers „Kabale und Liebe“, als eigentliches Demonstrationsobjekt seines Trauerspiels sah. (Hilde Spiel: Ein Netz von Zusammenhängen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. Mai 1970. S. 11)

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