Wissensteil:
Der Erste Weltkrieg beendet das „lange“ 19. Jahrhundert
Mit dem Ersten Weltkrieg ging auch eine Epoche zu Ende, nämlich das „lange“ 19. Jahrhundert. Es wird in der Geschichtsschreibung auch das „bürgerliche“ Jahrhundert genannt, obwohl es mit dem politischen Aufstieg des Bürgertums in der Französischen Revolution begann und erst 1918 endete. Für den Charakter einer Epochenzäsur gibt es folgende Belege: Der Krieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie der US-Diplomat George Kennan ihn nannte, beendete den optimistischen Fortschrittsglauben, der das 19. Jahrhundert geprägt hatte; die republikanische Staatsform löste die Monarchie ab, das parlamentarisch-demokratische Regierungssystem das konstitutionelle. Europa verlor seine globale Führungsrolle an die USA und damit einen Großteil seiner bisherigen weltpolitischen Bedeutung.
Der deutsche Historiker Karl Dietrich Bracher charakterisiert die Bedeutung des Ersten Weltkriegs folgendermaßen: „Der Krieg bedeutete Höhepunkt und Umschlag, Ende der wichtigsten Tendenzen des 19. Jahrhunderts; erst er vollendete die Jahrhundertwende. Die seit den großen Revolutionen der Neuzeit angebahnten innenpolitischen und zwischenstaatlichen Entwicklungen fanden in einem riesigen, erschütternden Zusammenstoß ihren schärfsten Ausdruck und ihre Entladung, freilich auch den Durchbruch in neue, intensivere Verwirklichungen. Zuspitzung und Ausgang des Ersten Weltkrieges markierten einen tiefen Einschnitt, einen Bruch mit der Vergangenheit, und setzten den Neuanfang einer Entwicklung von Strukturen und Systemen, die definitiv über die bisherige Geschichte hinausführen. Revolutionen neuen Typs mündeten in Diktaturen neuen Typs, die mit neuen Mitteln der Herrschaftstechnik als totalitär begründet wurden. Zuerst fielen die Monarchen von Gottes Gnaden. Der Sieg der Demokratie schien unaufhaltsam, ein Zurück in die Vorkriegszeit unmöglich.“ (Karl Dietrich Bracher: Europa in der Krise: I. Ullstein, Frankfurt/ M./Propyläen, Berlin 1979, S. 31)
Ist der Erste Weltkrieg der Beginn des zweiten Dreißigjährigen Kriegs?
Der Erste Weltkrieg wirkte sich fatal auf die weitere Geschichte Europas aus. Deshalb wird die Zeit zwischen 1914 und 1945 von manchem Historiker auch als der „zweite Dreißigjährige Krieg“ oder als „Katastrophenzeit“ der deutschen Geschichte bezeichnet. Die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage lautet: Welche Bedingungsfaktoren verliehen der Zeit von 1914 bis 1945 so viel Kontinuität, dass eine derartige Charakterisierung gerechtfertigt ist? Der Krieg schuf eine Fülle von Spannungen, ungelösten Problemen und Konflikten, die die Zwischenkriegszeit in fast allen europäischen Staaten, wenn auch unterschiedlich stark beeinflussten:
- Der Kreuzzugscharakter des Kriegs brachte Friedensverträge hervor, die die Ablehnung der besiegten Staaten, vor allem Deutschlands, provozierten, die in hohem Maße emotionalisierten und die zahlreiche Konfliktbereiche (Kriegsschuld, Reparationen, territoriale Verluste etc.) in sich trugen. Die daraus resultierende Revisionspolitik bestimmte die Innen-, Außen- und (bis 1935 geheime) Rüstungspolitik maßgeblich.
- Das traumatische Erleben des Kriegs führte in fast allen europäischen Ländern zu extremen linken und rechten Ideologien und dadurch zu einer Radikalisierung von Rechts- und Linksgruppierungen (Faschismus, Nationalsozialismus, Sozialismus/ Kommunismus).
- Autoritäre und totalitäre Herrschaftsformen entstanden, die Krise der Demokratie erfasste nicht nur die 1918/19 geschaffenen Demokratien, sondern auch die gewachsenen.
- Daraus resultierte eine generelle Radikalisierung der Politik und eine Vergiftung der innenpolitischen Atmosphäre, die wiederum negative Auswirkungen auf das Verhältnis der europäischen Staaten hatte.
- Aus diesen Gründen ist der Zweite Weltkrieg ohne den Ersten schwer denkbar und die Charakterisierung dieser Zeit erscheint trotz ruhigerer Phasen als gerechtfertigt.